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Die
Rütter-Orgel der Kerzenkapelle
Die ersten umfangreicheren Belege über einen Orgelbau am
Kevelaerer Kapellenplatz finden sich im Zusammenhang mit dem von Wilhelm
Rütter in den 1840er Jahren in der Kerzenkapelle erbauten Werk.
Rütter baute dieses Instrument unter Verwendung eines vorhandenen
Gehäuses und zahlreicher noch vorhandener Pfeifen. Welche Orgel hier zum
Neubau des Rütter'schen Instrumentes diente, läßt sich leider
nicht mehr feststellen. Unter Berücksichtigung der oben genannten
Eintragung in der Chronik der Oratorianer läßt sich jedoch vermuten,
daß bereits recht früh eine Orgel in der heutigen Kerzenkapelle zur
Verfügung stand. Daß Rütter sich mit dem Bau der Orgel in der
Kerzenkapelle bereits für den lukrativen Orgel-Neubau in der Basilika
bewerben wollte, also quasi ein "Probestück" ablieferte, ist eine oft
geäußerte, aber kaum schlüssige Vermutung. Als der
Münsteraner Bischof Johann Georg Müller bei seinem ersten
Pontifikalamt in Kevelaer die räumlichen Gegebenheiten in der
Kerzenkapelle erlebte und daraufhin den Neubau einer großen
Wallfahrtskirche anregte, schrieb man bereits das Jahr 1848. Rütters
Orgel-Neubau in der Kerzenkapelle aber war schon fünf Jahre zuvor
abgeschlossen, zu einer Zeit also, als vom Neubau einer Kirche offiziell noch
keine Rede war.
Das vorhandene Orgelgehäuse wurde von Rütter um ein
eigenständiges Pedalwerk erweitert. Aus Gutachten der Zeit, die den
Farbenreichtum und die Klangpracht des Instrumentes sowie die große
Sorgfalt und Kunstfertigkeit der Materialverarbeitung loben, ist lediglich die
Zahl der Register (28 auf zwei Manualen und Pedal) bekannt, nicht jedoch die
genaue Disposition. Bereits 1845 waren offenbar geringfügige
Änderungen in der Dispo-sition sowie der Bau einer Schwellvorrichtung
für das Untergehäuse geplant, die aber nie ausgeführt worden
sind.
Nachdem auch die Orgel der Kerzenkapelle nicht von den Wirren
der beiden Weltkriege verschont geblieben war, wurde 1962 unter der Leitung von
Prof. Rudolf Reuter ein Konzept für eine Orgelumgestaltung erarbeitet,
daß die klangaesthetischen und bautechnischen Grundsätze
Rütters jedoch völlig unbeachtet ließ. Reuter ersetzte in
seiner "neobarocken" Klangkonzeption das Unterwerk im Untergehäuse der
alten Orgel durch ein klingendes Rückpositiv, welches hinter der Fassade
des Rütter'schen Scheinpositivs plaziert wurde. Eine Kunststofftraktur und
Registertrakturführungen, bei denen Errungenschaften der Flugtechnik
(Flex-Ball) zum Einsatz kamen, waren Bestandteile dieser völlig neuen
Orgel.
So verschwand ein Denkmal der Rütter'schen Orgelbaukunst,
seiner romantischen Klangaesthetik, im Übereifer radikaler
Neuerungsbestrebungen innerhalb der Orgelbewegung. Daran änderte
übrigens auch der vehemente Protest des Orgelbaumeisters Ernst Seifert,
der seinerzeit die alte Orgel eigenhändig abtragen mußte und somit
über die Einzelheiten bestens informiert war, nichts. Die im Jahre 1962
von der Kevelaerer Firma Romanus Seifert & Sohn erbaute Orgel hatte 20
klingende Register, verteilt auf Hauptwerk, Rückpositiv und Pedal. Dabei
befand sich zum Beispiel die Pedallade auf der Höhe des Hauptwerkes
(ehemals Oberwerk). Da diese aber unter anderem eine Posaune 16' mit
Zinnbechern in voller Länge besaß, ragten die längsten Pfeifen
dieses Registers weit über den Prospekt hinaus, so daß auch der
optische Eindruck entstellt war. Holzlatten hielten das Obergehäuse
zusammen, das Gehäuse des Rückpositivs war recht primitiv und der
Spieltisch war dem Trend der Zeit entsprechend sehr nüchtern gehalten.
Spätestens in den achtziger Jahren machten sich die unliebsamen
Errungenschaften des Reuter'schen Konzeptes, dem die Kevelaerer Orgelbauer
seinerzeit nur ungern gefolgt waren, negativ bemerkbar. Die engmensurierten
Pfeifen waren im besonderen Maße ver-schmutzt, die Mechanik war
schwergängig und kaum noch zu traktieren. In den Jahren 1986/87 bot die
grundlegende Renovierung der Kerzenkapelle die Möglichkeit, auch die Orgel
gründlich zu reinigen und zu reparieren. In Zusammenarbeit mit der
Orgelbaufirma Seifert und den zuständigen Gremien der Pfarrgemeinde hatte
jedoch inzwischen der derzeitige Organist an St. Marien und Custor der Orgeln
am Kapellenplatz, Wolfgang Seifen, ein Konzept erstellt, das eine völlige
Umgestaltung der Orgel im Sinne der Rütter'schen Konzeption vorsah. Es
begann eine umfangreiche "Spurensuche" nach den Grundsätzen
Rütter'scher Orgeltradition, an deren Ende eine Rekonstruktion im Sinne
des Kevelaerer Orgelbaumeisters stand. Als Grundlage dieser Rekonstruktion
dienten zahlreiche noch vorhandene Werke Rütters, nach denen Seifen die
klanglichen Fakten (Mensuration und Disposition) erarbeitete. Ein noch
vorhandenes Teil des alten Orgelgehäuses reichte den Mitarbeitern der
Firma Seifert, um die Konstruktion für den Neubau zu errechnen. So
entstand die Ordnung von Ober- und Unterwerk mit Scheinrückpositiv in
seitenspieliger Anlage nach dem Rütter'schen Vorbild. Die nunmehr 24
klingenden Register wurden sinngemäß in die einzelnen
Gehäuseabschnitte verteilt und das ergänzte Pedalwerk in einem neuen
Gehäuse hinter der alten Prospektfront auf ebener Erde plaziert, so
daß die Rütter'sche Optik wieder hergestellt war. Das Unterwerk
wurde mit einer Schwellvorrichtung versehen und ist somit als Echo- und
Positivwerk einsetzbar. Durch die seitenspielige Anlage wurde das
Hauptgehäuse wieder nahe an die Brüstung gerückt.
Alle Zungenstimmen (außer Pedal) der Orgel sind in
Baß- und Diskantlage geteilt, auch die geteilte Manualkoppel (Baß
und Diskant) fehlt nicht. Die Disposition lehnt sich in der Hauptsache an noch
existierende Werke Rütters an. Sie weist einen romantisierenden Charakter
auf. In Abweichung der Rütter'schen Vorlage wurden die Manual- und
Pedalumfänge im Hinblick auf die zu bewältigende Literatur erweitert
(Manual: C - g'''; Pedal: C - f'). Die klanglichen Ergänzungen ergeben
sich aus der Rütterschen Anlehnung an den französischen Orgelbau des
19. Jahrhunderts und stellen eine Bereicherung des Klang-Konzeptes dar. Acht
Register der ehemaligen Seifert-Orgel fanden so mehr oder weniger
verändert eine erneute Verwendung. |
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